Bundespräsident a. D. Joachim Gauck ist der siebte Johann-Heinrich-Voß-Preisträger / Verleihung im festlichen Rahmen

Bundespräsident a. D. Joachim Gauck ist der siebte Johann-Heinrich-Voß-Preisträger / Verleihung im festlichen Rahmen

Bundespräsident a. D. Joachim Gauck mit dem Vorstandsvorsitzenden der Weser-Elbe Sparkasse bei der Preisverleihung. (Foto: Antje Schimanke)


Knapp 30 junge Kolleginnen und Kollegen aus der WESPA hatten die Möglichkeit an der Preisverleihung teilzunehmen. (Foto: Antje Schimanke)

Von Ulrich Rohde – Redaktionsleiter der Cuxhaven-Niederelbe Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG.

Im steten Ringen um die Freiheit

Otterndorf. Die Stadt Otterndorf sei ihm zuvor nicht bekannt gewesen, sagte Alt-Bundespräsident Joachim Gauck in seiner Replik anlässlich der 7. Verleihung des Johann-Heinrich-Voß-Preises. Doch er fühle sich hier wie zu Hause. „Sie sind sehr nah an mein Herz gelangt“, sagte der 85-Jährige in seiner frei gehaltenen Rede, der die Gäste in den Seelandhallen gebannt folgten.

Das Heimatgefühl, das Joachim Gauck schon bei seinem ersten Besuch in Otterndorf entwickelt hat, hat nicht nur damit zu tun, dass der Rostocker hier gleichgesinnte Norddeutsche antraf, sondern vor allem damit, dass er hier ein Beispiel dafür vorfand, welch ein „gesegnetes Land“ Deutschland sei. Denn es verfüge überall, auch in den Regionen abseits der Metropolen, über eine selbstbewusste, „aktive, gebildete und engagierte Bürgerschaft“. „Das war nicht immer so“, erinnerte Gauck, „schon gar nicht in der DDR“. Der Grund dafür sei die Freiheit als Raum der Möglichkeiten, als wertvollste Errungenschaft dieser Gesellschaft.

Zehn Jahre lang ist der Voß-Preis nicht verliehen worden. Letzter Preisträger war 2015 Wolfgang Schäuble, damals Finanzminister im Kabinett Merkel. Rechtzeitig zur 625. Wiederkehr der Verleihung der Stadtrechte an Otterndorf wurde der Preis, vergeben durch die Weser-Elbe Sparkasse in Zusammenarbeit mit der Stadt Otterndorf und der Cuxhaven-Niederelbe Verlagsgesellschaft und dotiert mit 10.000 Euro, wiederbelebt. Und es hätte keinen würdigeren Preisträger als Joachim Gauck, elfter Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland von 2012 bis 2017, geben können.

Das machte Otterndorfs Bürgermeister Claus Johannßen in seiner Begrüßung vor rund 200 Anwesenden deutlich. Gauck war direkt von der Trauerfeier für die kürzlich mit 103 Lebensjahren verstorbene Margot Friedländer, Überlebende des Holocaust und bis zu ihrem Tod unermüdliche Zeitzeugin, aus Berlin nach Otterndorf gekommen. Johannßen bat im Gedenken an diese große Deutsche um eine Schweigeminute.

Der Bürgermeister würdigte Gaucks Einsatz für die Demokratie als Pastor in Rostock und Teil der Bürgerrechtsbewegung in der DDR. Hans-Volker Feldmann, berufener Kenner des Voß’schen Werkes, wies darauf hin, dass der Übersetzer von Homers Odyssee, der zwischen 1778 und 1782 in Otterndorf als Lehrer an der Lateinschule wirkte, auch er ein Mecklenburger wie Gauck, explizit politisch zu verstehen sei. Im Sinne der Aufklärung habe Voß eine Kampfansage für Gerechtigkeit, Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit gesendet gegen Feudalismus und Unterdrückung. Feldmann: „Wir feiern heute mit diesem Preis konkretes, kluges politisches Handeln, das durch Bundespräsident a. D. Joachim Gauck repräsentiert wird.“


Rolf Sünderbruch (Vorstandsvorsitzender der Weser-Elbe Sparkasse) bei der Verleihung des Johann-Heinrich-Voß-Preises. (Foto: Antje Schimanke)

„Ein ermächtigendes Lebensgefühl“

Bundespräsident a. D. Joachim Gauck über seinen Weg vom Untertan zum Bürger und den Wert wehrhafter Demokratie

Von Ulrich Rohde

Otterndorf. Dieser Donnerstag, der 15. Mai, war ein „schöner Tag“ für Joachim Gauck, „auch wenn er auf einem Friedhof angefangen hat“, nämlich mit der Beisetzung von Margot Friedländer auf dem Jüdischen Friedhof Berlin-Weißensee. Doch bei einer 103-Jährigen sei es weniger eine Trauerfeier gewesen als „Erntedank“, meinte der Alt-Bundespräsident.

Die Ehre des Voß-Preises habe ihn sehr berührt, da die Werte des Humanismus und der Aufklärung, für die der Dichter, Übersetzer und Landsmann Gaucks stand, in gerader Linie zum ersten Artikel des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland wiesen, der Unantastbarkeit der Würde des Menschen. Diesen habe Voß vorgedacht, auch wenn die Menschenrechte im ausgehenden Zeitalter des Absolutismus gerade erst entdeckt wurden.

Seine eigenen Bürgerrechte hat Joachim Gauck erhalten, als er schon 50 Jahre alt war. Am 18. März 1990 durfte er zum ersten Mal in freier und geheimer Wahl seine Stimme für die Volkskammer abgeben. Es war, nach der friedlichen Revolution, die letzte Wahl in der DDR, aber die erste demokratische. „Jetzt war ich ein Bürger. Es war ein ermächtigendes Lebensgefühl, die schönste Zeit meines Lebens.“ Es war der Schritt von der Befreiung zur Freiheit, einem erwachsenen Lebensgefühl, das mit Verantwortung und Anstrengung verbunden sei.


„Wir dürfen denen nicht unsere Angst schenken“

Denen, die heute die Freiheit bedrohen, die offene Gesellschaft fürchten und verachten und sich nach autoritärer Führung sehnen, dürften wir „nicht unsere Angst schenken“. Dies bekräftigte Rolf Sünderbruch, der als Vorstandsvorsitzender der Weser-Elbe Sparkasse die Verleihung des Voß-Preises vornahm: „Wir sollten Nichthandeln mehr fürchten, als die Auseinandersetzung mit denen, die unsere Werte nicht teilen.“ Der Passivität gegenüber Putins Getreuen in diesem Land, ob die AfD, die er als „Vaterlandsverräter“ kennzeichnete, Sahra Wagenknecht, die sich nach Gaucks Worten durch eine merkwürdige Kälte gegenüber den Opfern auszeichne, oder Teilen der Linken erteilte Joachim Gauck eine klare Absage.

Es sei ein historischer Irrglaube gewesen, Wandel durch Annäherung zu erreichen. Diese Politik habe nur einmal in den 1970er Jahren funktioniert. Doch sei diese Politik auch noch nach 1990 fortgeführt worden. Auch der Bau der Gaspipeline Nord Stream 2 sei diesem Wunschdenken gefolgt. Gauck: „Wir verabschieden uns gerade erst von diesem Wunschdenken.“ Wer dem Aggressor mit Beschwichtigung beizukommen versuche, habe nichts verstanden. Gauck: „Wladimir Putin hat seit seiner KGB-Zeit nichts dazugelernt.“ Der russische Präsident sei im Zarismus steckengeblieben und verfolge eine alte reaktionäre Agenda.

Gauck legte ein klares Bekenntnis zur militärischen Stärke ab: „Wir schauen friedfertig aber bewaffnet nach Moskau. Wir müssen mit Waffen unseren Gegnern die Stirn bieten.“ Es sei geradezu eine „Menschenpflicht, einem überfallenen Opfer zu helfen“. Er stellte klar: „Wir müssen kein schlechtes Gewissen haben, wenn wir Schwächeren helfen.“

Johann-Heinrich-Voß-Preis 2025. (Foto: Antje Schimanke)


Warum es sich lohnt, in 
diesem Land zu leben

Speziell den jungen Menschen in den Seelandhallen, Auszubildenden der Weser-Elbe Sparkasse und der Samtgemeinde Land Hadeln, bot Joachim Gauck an, auf das Land zu schauen, als wäre man gerade erst angekommen. Natürlich fände man überall etwas, was zu kritisieren sei, was nicht funktioniere oder unzureichend wäre. Aber es gebe eben auch vieles, wodurch es sich lohne, in diesem Land zu leben: freie Wahlen, freie Rede, Meinungs- und Pressefreiheit, das Recht eine Partei, einen Verein oder eine Initiative zu gründen, eine von der Macht unabhängige Rechtsprechung, ein Sozialstaat, die Liebe zum Frieden, die Freiheit von Wissenschaft und Kunst aber auch das Recht, das Land jederzeit verlassen zu dürfen, wenn man will. All das, was engagierte Menschen so geschaffen und erkämpft haben, sei nicht selbstverständlich und werde erst dann bewusst, wenn etwas davon fehlt. Aber: „Dies ist unsere politische Wirklichkeit. Wo ist die Dankbarkeit dafür?“, schloss Alt-Bundespräsident Joachim Gauck seine Rede. Die Anwesenden erhoben sich zum lang anhaltenden, stehenden Applaus.

Die Kolleginnen und Kollegen der WESPA zeigten sich von der Veranstaltung beeindruckt. (Foto: Antje Schimanke)


Ein Humanist und Realist

Laudatorin Helga Trüpel würdigte das Wirken Joachim Gaucks

Otterndorf. Joachim Gauck sei ein sicherer Kompass in erschütternden Zeiten, ein Fixpunkt der Orientierung. Diese Zuschreibung maß Helga Trüpel dem Geehrten bei. Die Bremer Politikerin und ehemalige Abgeordnete des Europaparlaments für die Grünen hielt die Laudatio für den diesjährigen Voß-Preisträger, der sich damit einreiht in die Riege der Geehrten, die im Jahr 2000 mit dem Lyriker Peter Rühmkorf ihren Anfang nahm. Es folgten Bundespräsident a. D. Richard von Weizsäcker, die Autorin Sarah Kirsch, Bundesaußenminister a. D. Hans-Dietrich Genscher, Intendant Jürgen Flimm und Bundesminister Wolfgang Schäuble.

Helga Trüpel stellte eine aus den Fugen geratene Welt der Konflikte der offenen Zivilgesellschaft, in der wir leben, gegenüber. Es gehe heute um nicht mehr und nicht weniger darum, den „politischen Westen“ zu verteidigen und damit auch dessen Freiheit und seine regelbasierte Ordnung. Und dafür brauche es Menschen wie Joachim Gauck als Vorbild und Anker.

Der ehemalige Bundespräsident sei einfühlsam, aber mache sich nicht gemein. Er leiste geistige Führerschaft, die sich aus seiner Lebensgeschichte aber auch aus seinen gelebten Überzeugungen speist. Joachim Gauck sei „selbstreflektiv und reflektierend“, Eigenschaften, die im politischen Alltagsgeschäft nicht mehr im Übermaß anzutreffen sind. Und er sei ein „Citoyen“, kein „Bourgeois“, also jemand, der als Staatsbürger seine staatsbürgerlichen Pflichten wahrnimmt und nicht nur seine eigenen Interessen schützt.

Joachim Gauck hat sich selbst einmal als „linken liberalen Konservativen“ bezeichnet, was ihn letztlich für eine Parteimitgliedschaft ungeeignet macht, ihm aber die Freiheit verleiht, unabhängig zu denken und zu handeln. „Eine lebendige und wehrhafte Demokratie braucht mündige Bürger und eine intakte Zivilgesellschaft“, sagte Helga Trüpel. Joachim Gauck gebe das Beispiel dafür, dass man sich „von der Macht der anderen nicht dumm machen lassen“ dürfe.

Der Tausch der Freiheit in der Demokratie gegen die Sicherheit in der Autokratie ist kein gutes Geschäft. Dennoch werde genau dieses von unterschiedlichen Kräften in Deutschland betrieben. Gaucks Sorge gelte daher der aktuellen mentalen Schwäche Deutschlands, der politisch-moralischen Insuffizienz. Der Alt-Bundespräsident sei stets auf der Höhe der Zeit, vertrete mit Nachdruck seine humanistische Position, aber er sei kein „Traumtänzer“.

Der von ihm als Bundespräsident in der Debatte während der Flüchtlingskrise im Jahr 2015 geprägte Satz „Unser Herz ist weit. Doch unsere Möglichkeiten, sie sind endlich“ ist Ausdruck jener reflektierenden Ratio, die Humanismus mit Realismus vereint.

Am Schluss seiner Rede, die Gauck im Herbst vor zehn Jahren in Mainz gehalten hat, sagt er folgendes: „Wenn wir Probleme benennen und Schwierigkeiten aufzählen, so soll das nicht, so soll das niemals unser Mitgefühl – unser Herz – schwächen. Es soll vielmehr unseren Verstand und unsere politische Ratio aktivieren. Wir werden also weiter wahrnehmen, was ist – ohne zu beschönigen oder zu verschweigen. Wir werden weiter helfen, so wie wir es tun – ohne unsere Kräfte zu überschätzen. So werden wir bleiben, was wir geworden sind: Ein Land der Zuversicht.“ Und der Hoffnung. Helga Trüpel zitierte dazu den früheren tschechischen Präsidenten Václav Havel: „Hoffnung ist nicht die Überzeugung, dass etwas gut ausgeht, sondern die Gewissheit, dass etwas Sinn macht, egal wie es ausgeht.“ (ur)


Befreiung des Ich

Voß` Dichtung wurde unterschiedlich rezipiert

Otterndorf. Als Vorstandsmitglied der Johann-Heinrich-Voß-Gesellschaft sprach Hans-Volker Feldmann zur Einführung der feierlichen Preisverleihung an den ehemaligen Bundespräsidenten Joachim Gauck. Feldmann erinnerte auch an die ersten Versuche gemeinsam mit dem langjährigen Otterndorfer Bürgermeister Hermann Gerken, zu Beginn der 1980-er Jahre Kontakt nach Penzlin in Mecklenburg aufzunehmen, der Stadt, in der Voß aufgewachsen ist. Damals ein schwieriges Unterfangen unter den Bedingungen der komplizierten deutsch-deutschen Beziehungen.

Im Mittelpunkt der Rezeption der Voß`schen Dichtung in der DDR standen nicht dessen humanistische und aufklärerische Ideale, nicht die Befreiung des Individuums von der Bevormundung durch die Herrschenden, sondern sein Klassenstandpunkt im marxistischen Sinne. Freilich hatte er in seinen Schriften unverblümt gegen Feudalismus und Junkertum, gegen ererbte Privilegien und müßiges Schmarotzertum gewettert, ein früher Kommunist ist er deshalb natürlich nicht gewesen. Johann-Heinrich Voß ist dasselbe widerfahren wie beispielsweise Thomas Müntzer. Der Priester, Reformator und spätere radikale Anführer im Bauernkrieg wurde von der Staatsführung der DDR fälschlich als Vorläufer des Kommunismus vereinnahmt.

Tatsächlich sei es dem Übersetzer der homerischen Epen ins Deutsche darum gegangen, im Sinne des Humanismus den Menschen ins Zentrum zu stellen, erläuterte Feldmann. Etwa in der Odyssee. In der Episode, in der Odysseus den Kyklopen Polyphem überlistet, ruft der Held aus vollem Selbstbewusstsein heraus: „Ich bin Odysseus!“

Die DDR ist Geschichte, die Bedeutung von Johann-Heinrich Voß für die deutsche Literatur geblieben. Heute sind Otterndorf und Penzlin – inzwischen seit beinahe 36 Jahren – partnerschaftlich verbunden. Und die Stationen des Voß`schen Wirkens Penzlin, Neubrandenburg, Eutin und Otterndorf sind seit 1993 in der Johann-Heinrich-Voß-Gesellschaft vereint. (ur)